Der alte Mann im steinernen Meer

Blog #06

"Sonnenkind!", begrüßt er mich und hält meine beiden Hände in den seinen. Der alte Mann. Klein und schmal ist er geworden. Und liebend. Nichts Hartes, Abweisendes ist mehr vorhanden. Zwar erkenne ich die schmalen Furchen noch, die sich wie lange Kerben in seine Wangen geschlagen haben, aber seine Augen sind sanft geworden. Herzlich ist seine Einladung, mich zu ihm an den gedeckten Tisch zu setzen. Es ist gerade die Zeit für den Nachmittagskaffee, eine heimelige und mir aus der Kindheit bekannte und geliebte Tradition.

Die Jahre haben viel gefordert. Von ihm. Von uns. Er weiß es und ich weiß es auch. Wenn er spricht, höre ich seine Verwundbarkeit, sein Zögern, seine Einsamkeit, aber auch seinen Mut dennoch zu sein und seine Versöhnung. "Nicht mit der Welt, sondern mit mir habe ich mich versöhnt.", sagte er einmal zu mir, "denn das, was war, kann ich nicht mehr ungeschehen machen. Es macht keinen Sinn, in der Vergangenheit zu leben, denn alles dort ist bereits lange verschwunden und es hilft keinem mehr, sich daran zu hängen. Ich habe vieles versäumt ... zu tun ... zu sagen. So vieles war mir nicht klar. Und geredet habe ich kaum. Nicht über mich und schon gar nicht über meine Gefühle. Alle dachten wohl, ich hätte keine, ... und ich selbst wohl auch."

Wir sitzen uns gegenüber und ich schätze jene Momente sehr, wenn er von sich und aus seinem Leben erzählt. Es gab so vieles, was nicht funktionierte. So viel Trauer, Wut, Glaube, Unglaube und so viel Schmerz. Für ihn. Für uns alle. Es bewegt mich. Sehr. Weil ich es kenne. Weil es auch meine Geschichte ist. Er ist Teil von mir und ich bin Teil von ihm.

Er hält seinen Blick ein wenig gesenkt. Um zu vermeiden, dass wir traurig werden, rückt er die Kuchenteller und die Kaffeehäferl zurecht und sagt etwas aufgeräumter nun, "Weißt Du, was ich vor einiger Zeit geträumt habe. Ich saß auf der Bank vor unserem Haus und mein Sohn sagte: Vater, warum hast du niemals gut für dich selbst gesorgt? Und ich entgegnete ihm: Was hätte das geändert? Und mein Sohn antwortete mir: Alles!"

"Stell Dir vor," wiederholt er, "mein Sohn hat mich nicht gefragt, warum ich zu wenig und nicht gut für ihn gesorgt habe, sondern warum ich mich nicht gut genug um mich selbst gekümmert habe!"

Ich spüre, wie ihn diese Erkenntnis zutiefst erschüttert hat. Sein Leben kannte keine Fürsorge, nicht als Kind und nicht als Mann. So tat er, was er gelernt hatte und was zu tun war. Das Nötigste. Mehr war ihm nicht möglich zu tun. Es galt zu funktionieren. Zu überleben. Mehr hatte er nicht erfahren. Selbstfürsorge hatte keinen Namen und damit keine Existenz. Hätte sie es gehabt, vielleicht hätte sie alles verändert? Ich sehe ihn an und erkenne, es ist seine Geschichte und es ist auch die meine.

"Es wird viel über die Liebe geredet ..." spricht er weiter, "... aber ich habe sie erst viel zu spät erkannt. Wie hätte ich geben können, was ich nicht kannte? Erst als das Liebste fort war, begann ich zu verstehen. Und ich stand auf und zog mir den neuen Janker an, den ich mir gegönnt habe, sah in den Spiegel und fühlte mich fast feierlich damit. An diesem Tag hast du mich zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder zum Kaffee besucht. Ich habe die meisten Jahre meines Lebens nur für das Notwendigste gesorgt und es so auch von den anderen erwartet. Jetzt glaube ich, es war wohl zu wenig zum glücklich sein."

Obwohl Traurigkeit auf seinem Gesicht liegt und seine Hände zittern, sehe ich in seinen Augen jetzt den kleinen, lebendigen Buben, der eine Hoffnung hatte, als das Leben sehr jung war. Ich erkenne auch das Kind, dessen Hoffnung ohne Fürsorge verloren ging und den jungen Mann und Vater, der hoffnungslos und hart geworden, sich selbst und schließlich auch seinen Kindern keine Fürsorge geben konnte. Ich sehe ihn, den alten Mann, der ein Leben lang niemandem zur Last fallen durfte und dies auch nicht wollte und der dachte, er würde den Menschen nicht lästig sein, wenn er ihnen aus dem Weg ginge und sie nicht nahe genug an sich heranließe.

Mit einer Hand tätschelt er die meine, nimmt dann die Kaffeekanne und schenkt uns beiden den Kaffee ein."Ich bin ein alter Mann. Im steinernen Meer. Es macht keinen Sinn, die Vergangenheit zu betrauern. Jetzt bin ich froh, dass du mich besuchst! Ich bitte dich, mache es besser als ich und schau immer gut auf dich und vergiss nicht - als Allererstes - die Fürsorge für dich selbst. Aber du, du weißt das ja eh, oder?" Und ich überlege, "tu ich das?"

"So und jetzt beginnen wir gleich damit, denn Übung macht den Meister ... und die Meisterin ..." Lächelnd nickt er mir zu, "... und wir essen die gute Torte." Wir verspeisen die Torte und trinken den Kaffee.

Und da ist sie. Die Liebe. Dennoch. Trotzdem. Bedingungslos.

Es ist unsere Geschichte. Seine. Meine. Es war sein Tor zur Freiheit. Es ist auch meines. Nicht irgendwann. Jetzt.

Und der kleine Bub, der nun aus seinen Augen blickt und der die Hoffnung nie ganz verloren hat, sieht mich an und ich spüre und höre es - wie ein Meer an Steinen von seinem und von meinem Herzen fällt.

In Liebe. Dennoch. Trotzdem. Gewidmet dem kleinen Buben und dem alten Mann im Steinernen Meer.

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Doris Herzog

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